Montag, 22. August 2011

Innominata integral



Nach dem Schuttabenteuer mit Thömel am Rotbrättgrat wusste ich wieder, warum es sich eben doch lohnt, viereinhalb Stunden Fahrzeit nach Chamonix zu investieren und dort bergzusteigen. Genau genommen sind es diesmal sogar noch deutlich mehr, denn unser Ziel ist ein "walk on the wild side", auf der italienischen Seite des Mont Blanc Massivs. Und zwar möchten wir den Innominata-Grat auf den Mont Blanc klettern. Es ist gleichzeitig auch meine erste Besteigung des höchsten Punktes von West-Europa. Aber eben, zuerst müssen wir ins Val Veny kommen. Der Bus nach Courmayeur hat grad Anschluss in Chamonix, dort müssen wir aber noch gute dreiviertel Stunden auf den Bus ins Val Veny warten. Zum Glück sind wir in Italien!
Beim Campingplatz Miage führt dann schliesslich der Weg hoch in die Monzino-Hütte. Was für eine wilde, unberührte Landschaft! Und natürlich die atemberaubende Berggestalt der Aiguille Noire de Peuterey, die das Tal dominiert.
Der Weg zur Hütte ist klettersteigartig ausgebaut, lässt sich allerdings gut ohne Gschtältli begehen. Man gewinnt sehr schnell an Höhe, schon bald kommt die Hütte in Sicht, und wir staunen einmal mehr über diese schroffe, steile Landschaft.
Die Monzino-Hütte ist toll gelegen, für eine Hütte sehr komfortabel und - fast leer! Und dies inmitten einer Grand Beau-Phase, wie es sie in diesem Sommer noch kaum gegeben hat. Wir können es kaum glauben. Der sehr freundliche Hüttenwart kann uns auch in einer anderen Sache beruhigen: Nein, es haben sich nicht Dutzende von Tourengängern für das Eccles angemeldet, wir seien zusammen mit einer anderen Seilschaft die Einzigen morgen abend im Biwak! 
Am nächsten Morgen starten wir mit dem ersten Morgenlicht um sechs Uhr zum Südgrat der Punta Innominata. Unser Ziel ist es nämlich, den sogenannten "Innominata Integral" zu begehen, das heisst, den vollständigen Grat, der sich von der Monzino-Hütte her bis zum Gipfel des Mont Blanc zieht. 
Die Punta Innominata ist der zentrale, nicht sehr stotzige Gipfel etwas rechts der Bildmitte, mit dem Innominata-Grat rechts des Gipfels. 
Zuerst steigen wir über ein kleines, sterbendes Gletscherlein hoch, dann folgt mit Steigeisen nicht ganz unschwieriges, etwas brüchiges Felsgelände bis in den Col Innominata. Dort eröffnet sich der Blick auf die riesige Westwand der Noire, und den wilden Freney-Gletscher. Hier wird auch der Fels besser, die Kletterei kann beginnen!
Es folgen zuerst drei Seillängen im unteren vierten Grad, bevor man leichteres Gelände erreicht. Der Fels hat zwar nicht gerade Chamonix 1a-Qualität, aber das Ambiente dafür umso grossartiger.

 Im oberen Teil wird der Fels eher noch ein Tick schlechter (allerdings immer noch bombastisch im Vergleich zum Rottbrättbruch). Meistens ist der Grat Gehgelände, dazwischen kommen aber immer wieder kurze Aufschwünge im 2. und 3. Schwierigkeitsgrad.
Nach vier Stunden, etwa um 10 Uhr, erreichen wir den Vorgipfel der Punta Innominata. Es folgt der letzte Aufschwung, der nochmals mit etwas plattigem Gelände im oberen 3. Grad aufwartet. 
Vom Gipfel sieht man direkt in die riesige Südflanke des Mont Blanc. Brouillardpfeiler, Freneypfeiler... ein tolles Gefühl, endlich mal alle diese magischen Plätze, die ich bis jetzt nur aus Bergbüchern kannte, in Live zu sehen.
Natürlich sieht man auch den Innominata-Grat, der im oberen Teil kein eigentlicher Grat mehr ist, sondern mehr eine komplexe Linie durch die Südwand des Mont Blancs. 
Sieht schon irrsinnig eindrücklich aus, und ich mache mir schier in die Hose - da soll man durch? Andererseits hat mir meine Erfahrung gezeigt, dass, was aus Distanz unlösbar aussieht, aus der Nähe eigentlich trotzdem immer geht. Bergsteigen ist eben, ähnlich dem Sportklettern, auch eine Kopfsache.
Mit dreimal 25 Meter abseilen gelangen wir auf den scharfen Firngrat, welcher die Punta Innominata mit der Punta Eccles verbindet. 
Mittlerweile ist es Mittag, die Sonne brennt erbarmungslos, und der Schnee ist weich. Das Hochstapfen ist mühsam - zum Glück haben wir nicht den Direktaufstieg über den Gletscher ins Biwak gemacht!
Endlich erreichen wir die kleine Biwakschachtel - atemberaubend auf einem kleinen Felsvorsprung gelegen! Die "Hüttenterrasse" ist einen knappen Meter breit, darunter und darüber ist steiles schneedurchsetztes Felsgelände. 
Das Biwak ist etwas verdreckt, aber nicht ganz so vergammelt, wie es italienische und französische Biwaks mitunter sind. Und da wir alleine sind, können wir uns natürlich die besten Betten aussuchen. Matrazen, Wolldecken, Pfannen - alles da!
Den Nachmittag verbringen wir mit Wasserkochen, ausruhen - und über drei Polen lachen: Die drei kurligen Typen tauchten irgenwann im Laufe des Nachmittags auf, kamen kaum über die Felsen ins Biwak - und möchten am nächsten Tag den Freney-Pfeiler klettern! Sie hätten sich in einer Bar im Chamonix kennengelernt, seien zum dritten Mal in Chamonix, das passe schon. Wir wünschen den dreien viel Spass und fragen noch nach, ob sie die Notfallnummer der Bergrettung kennen. Wir haben sie am nächsten Tag absteigen sehen - eine gute Entscheidung! Später stöbere ich noch etwas im Hüttenbuch: Der Innominata wird zwischen fünf und zehn mal pro Jahr begangen, ähnlich oft der Brouillard-Grat, ebenfalls regelmässig begangen werden der Broillard- und der Freney-Pfeiler. Die Eisgullies hingegen finden kaum Wiederholer.
Leider setzt bei mir im Laufe des Abends Kopfweh ein, auch Thomas kämpft mit der Höhe - wir sind beide nicht besonders höhenresistent. Die Nacht wird kurz und unruhig. Als um halb vier der Wecker läutet, fühle ich mich wirklich beschissen, bringe kaum ein Bissen runter. Um vier Uhr starten wir, seilen 25 Meter auf den Gletscher ab, ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Mir kommen Zweifel, ob das was wird heute. Zum Glück schlägt Thomas den in Peru erfolgreich angewandten '6000er-Schritt' an. Im Mondlicht steigen wir über den Gletscher bis an den Bergschrund hoch. Das Monsterteil lässt dann allerdings die Müdigkeit verschwinden. Etwas rechts der Schwachstelle muss Thomas zuerst in Wühlschnee hochsteigen, dann auf einem Band unter dem überhängenden Bergschrund kriechend nach links traversieren. Dies erlaubt uns, über eine kurze Steilstufe in die Schneehänge über dem Schrund zu gelangen. Geht zwar, hat aber nichts mit der 'L'-Bewertung aus dem Führer zu tun. Und es geht gleich weiter im selben Takt: Nix Firn, sondern hartes Eis erwartet uns im Aufstieg zum Col Eccles. Zum Glück haben wir ein zweites Eisgerät mitgenommen! Wir gehen am langen Seil und schrauben Zwischensicherungen, erreichen aber trotzdem um halb sechs den Col Eccles. Hier wird das Gelände angenehmer, und ich habe auch meine Startkrise überwunden, der Motor läuft. Es folgt ein Firngrätchen, danach leichtes Mixedgelände im oberen 2. Grad, gut absicherbar. Bald kommt die Schlüsselstelle der Tour in Sicht, der 5b-Risskamin. 
Der Fels ist begeisternd - roter, eisenharter Granit, übersät mit Griffen und Tritten. Der 'Pas en 5b' ist ein praktisch senkrechtes Wändchen mit schlechten Tritten, und wirft mich zuerst ab - wir sind eben am Mont Blanc auf 4000 Meter, und nicht im Gasi auf 400 Meter. Im zweiten Go geht es aber prima, und die Bewertung 5b ist auch wirklich fair und geht gut mit den schweren Schuhen.
Jetzt ist gerade Sonnenaufgang - diese magische Stimmung, die süchtig macht und uns bereitwillig den 'Figg' auf uns nehmen lässt.
Nach dem Riss folgt ein kurzes Bändchen, dann ein Felsloch, auf dessen Rückseite man zu einer kleinen Plattform kommt.
Der nachfolgende Riss ist etwa ein Vierer, aber auch gutmütig zu klettern. Bald gelangt man in leichteres Gelände, welches in weiterhin sehr gutem Fels bis auf den Grat führt. 
Auf dem Grätchen angekommen, öffnet sich der Blick auf den weiteren Teil der Route - das berüchtigte Couloir und die Felsrippen dazwischen. Für die Kletterei bis hierhin haben wir knappe anderthalb Stunden gebraucht, es ist etwa sieben Uhr. Es ist noch alles ruhig.
Bei viel Schnee kann das Firngrätchen ein ernstes Problem sein, jetzt aber geht es problemlos und ist fotogen!
In weniger schönem Bruchgelände steigen wir vorsichtig auf bis zum Schneecouloir. Hier muss man auf Steinschlag achten. Tatsächlich fliegt in diesem Moment ein etwa faustgrosses Geschoss das Couloir runter. Uns kann nichts passieren, wir befinden uns immer noch im Schutze der rechten Felswand. Wir steigen hoch, bis sich die Felswand verliert - und dann traversieren wir schnell horizontal nach links. Mit dieser Strategie befindet man sich wohl kaum eine Minute in der heiklen Zone. Wir traversieren die erste Rippe und gelangen über ein Schneefeld zur zweiten Rippe, bereits wieder im Schutze der linken Felswand. Insgesamt würde ich das Couloir zwar als heikel, aber sicher nicht als sehr gefährlich einstufen. Stellen wie diese hat man auf vielen Hochtouren (ich erinnere mich z.B. an das Zinalrothorn-Couloir). Hier der Blick zurück auf das Couloir:
Nach der Rippe eröffnet sich der Blick auf das Firnband, welches den Zugang zum Brouillard-Sporn erlaubt. Es ist etwa 45° steil, der Schnee leider jetzt, um halb neun, schon aufgeweicht.
Nach etwa 100 Meter erreichen wir den Sporn. Jetzt folgen weitere wunderschöne Klettermeter in meist leichtem Gelände und bestem Granit. Hier habe ich gerade eine etwas schwierigere Stelle im unteren 3. Grad überwunden.
Und dann natürlich immer diese tollen Ausblicke auf die schon recht klein aussehenden umliegenden Gipfel.
Hier sieht man den oberen Teil des Brouillard-Sporns, nicht sehr schwierig, aber doch anhaltend, und mit ziemlich viel Tiefblick.
Das Gelände neigt sich dann eher etwas zurück und geht langsam in Schnee über. Da wir zügig unterwegs sind, ist der Schnee auf den abgeschatteten Stellen immer noch gut gefroren. An ein, zwei Stellen kommt allerdings bereits das Eis hervor, es lohnt sich also, immer eine Schraube am Gurt zu haben und ab und zu mal eine Zackenschlinge um die hervorschauenden Felsen zu legen. Ein abgestumpfter, etwa 35° steiler Firngrat führt dann auf den Brouillard-Grat auf 4600 Meter. Das Spuren im weichen Schnee ist hart! 
Jetzt endlich leichtet sich das Gelände markant. Der hier fast horizontale Brouillard-Grat bietet klassisches Hochtourengelände im WS+ Bereich. Ich bin ziemlich froh, dass es nicht mehr so steil hochgeht, weil ich die Höhe doch ziemlich spüre.
Wir brauchen etwa 45 Minuten für den Grat, danach queren wir in etwa 30° steilem Gelände unter dem Mont Blanc de Courmayeur hindurch. Diese Querung ist zwar gut gespurt, aber im Hartschnee nicht ganz unheikel. 
Schliesslich erreichen wir - wiederum im Zeitlupentempo - den höchsten Punkt der Alpen. Die Touristen, welche ich gebeten habe das Foto zu schiessen, hat offensichtlich auch die Höhe gespürt, so schrägt wie sie den Fotoapparat gehalten hat.
Jetzt die Frage: Aiguille du Midi oder Gouter? Ich habe den 300 Meter Aufstieg zur Midi-Bahn sicher schon gegen zehn mal gemacht und irgendwie überhaupt keine Lust darauf. Deshalb wählen wir den Bosses-Grat. Hat sich aber im Nachhinein gesehen eher als Fehler herausgestellt. Klar, im oberen Teil ist es wirklich angenehm leicht, ein richtiger 'No-Brainer'. Man sieht einige traurige Gestalten, die sich am Nachmittag mühsam hochquälen. Nach der Gouter-Hütte allerdings folgt ein ätzender Steilschutt-Abstieg durchs Grand Couloir, hier die steinschlägige Querung.
Wir kreuzen ganze Horden von Mont Blanc Aspiranten, viele mit turmhohen Rucksäcken. Ich möchte mal wissen, was die so alles hochtragen. Um uns eine Nacht in Chamonix zu ersparen, müssen wir die Bahn um 16:40 erwischen - geht auch, aber nur mit langen Schritten. Die im Eberlein-Führer veranschlagten 4-5 Stunden vom Gipfel bis Nid d'Aigle sind nämlich schon realistisch. Im überfüllten Bähnchen fahren wir nach Le Fayet, dort - man glaubt es kaum - will uns keine Beiz etwas zu Essen servieren. Weil es 'erst' 18 Uhr ist. Frankreich vom Mühsamsten.   Die Heimreise via Chamonix, Martigny und Lausanne nimmt dann volle fünfeinhalb Stunden in Anspruch. Und endlich, im Speisewagen von Lausanne nach Zürich kriegen wir was zwischen die Rippen!


Facts:
Mont Blanc, Innominata (integral), S, 5b, 50°. 
Grosszügige, zwingend mit Biwak auszuführende Hochtour auf den höchsten Gipfel der Alpen. Sehr anhaltend in Fels und Schnee, aber nie ganz grosse Schwierigkeiten. Bis auf die Querung des Couloirs sehr sichere Aufstiegslinie. 
Material: Zwei bis drei Friends, Keile, genug Zackenschlingen, Eismaterial (inklusive zwei Eisgeräte, bei günstigen Firnverhältnissen würde auch ein Pickel reichen). Für das Biwak Kocher und Gas, Decken, Pfannen und Besteck hat es vor Ort. Wir haben zusätzlich noch die Daunenjacke als Back-Up bei überfülltem Biwak mitgenommen, was zum Glück nicht eingetroffen war.
Route im Überblick:

1 Kommentar:

  1. Wow! gut bebildert+beschrieben. Das Wetter liess ja keine Zweifel aufkommen. Eine Traumtour auf manch eines Alpinisten Wunschliste.

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